Categorie archief: Kolumnen auf Deutsch

Der Papst zwischen Himmel und Erde

Ich hatte einen anstrengenden Tag hinter mir und wollte so schnell wie möglich in mein Zimmer. Spät nachmittags in Rom. Auf den letzten Drücker hatte ich noch ein Hotel nicht allzu weit vom Petersplatz gefunden. Jeder, der sich dieser Tage – aus welchem Grund auch immer – in der Umgebung des Vatikans aufhält, wird feststellen, dass die Tourismusbranche in Italien noch keine Krise kennt. Ich wusste, dass das vier mal vier Meter große Zimmer seinen Preis nicht wert ist, aber was tut ein Mensch nicht alles für einen Artikel.

Als der schmale Aufzug mit einem knirschenden Ruck zwischen zwei Stockwerken stehenblieb, hörte ich den Mann hinter mir „Scheiße“ sagen. Ich blickte mich flüchtig um, suchte aber schnell die Notruftaste und drückte. Es ertönte ein einziges, dumpfes Klingelsignal, das mich an die Straßenbahn 7 erinnerte, die mich in Gent zur Schule brachte und genauso klingelte, bevor sie die Haltestelle verließ. Ein einziges Klingelsignal, irgendwo unter uns, hoffentlich nahe genug bei dem dicken Mann hinter der kleinen Rezeption, der eben noch in aller Ruhe seine Zeitung las.

Ich drehte mich um und sah jemanden, der mir hier im fernen Rom nicht unbekannt vorkam. Dieses weiße Haar, das heisere, hohe „Scheiße”, sein Alter, „Herr Ratzinger?“, fragte ich auf gut Glück. Nun ja, Glück, ich sehnte mich dieser Tage nicht unbedingt nach dem Papst, ich hatte den ganzen Tag ein langes Gespräch mit jemandem geführt, der nicht so begeistert von ihm war, und das hinterlässt natürlich auch Spuren.

Als jemand etwas von unten herauf rief, lachte der Mann kurz und sagte auf Deutsch: „Er schickt einen Techniker, aber es ist viel Verkehr. Ich hoffe, Sie haben keinen wichtigen Termin.“ Den hatte ich allerdings, nämlich mit einem dünnen, hellbraunen Wasserstrahl aus dem kleinen Duschkopf und mit der harten Matratze samt schmuddeliger Bettdecke.

„Roel“, sagte ich und streckte ihm meine Hand entgegen. „Joseph“, sagte er und schüttelte sie etwas schwabbelig und zu lang. Als ich ihn fragte, ob er der Doppelgänger sei, murmelte er, dass ein Papst nicht lügen darf. Er zeichnete mit seinem Daumen ein Kreuz auf die vier Holzwände der Kabine. „Beichtgeheimnis“, sagte er, „ich bin auf dem Weg zu meiner Frau in Zimmer 31. Sie ist kurz aus Deutschland gekommen, damit wir uns mal wieder unterhalten, und weil Ursula immer den Mund weit aufreißt und der Vatikan seine Ohren überall hat…“

„Das Beichtgeheimnis hat für mich keine Bedeutung“, sagte ich. „Trotzdem“, antwortete er auf der Suche nach einem Funken Unsicherheit, einem Zeichen des Vertrauens, oder etwas, das man dafür halten könnte. Ich musste mich kurz anlehnen, schärfte meinen Blick und zermarterte mir das Hirn… ich wurde hier garantiert zum Narren gehalten.

„Ihre Frau?“, fragte ich. „Ja, sie stand heute auf dem Petersplatz, ich sah sie in den Nachrichten zwischen all den anderen Priesterfrauen, die für ihre Rechte protestierten. Ich hatte sie zwar gebeten, es nicht zu tun, aber wer bin ich schon?“ Er rümpfte die Nase, dann fragte er: „Und was führt Sie nach Rom? Ihre Gläubigkeit oder Ihre Ungläubigkeit? Stört es Sie, wenn ich mich setze?“

Er klappte einen Stuhl an der anderen Aufzugswand herunter und ließ sich fallen, wie ein alter, übermüdeter Mann das so macht, mit einem tiefen Seufzer nach dem Setzen. „Im schwarzen Anzug, so ganz ohne Ornat, könnten Sie jeder sein, wäre es nicht, dass Sie in den letzten Monaten immer wieder in die Schlagzeilen waren“, sagte ich. Er sah mich mit wässrigem Blick an und nickte. „Ich vermisse den Schatten“, sagte er leise, „die Düsternis meines Studierzimmers und meine Bücher. Wie viel hält ein alter Geistlicher wie ich noch aus? Österreicher?“, fragte er.

„Flame in Wien“, antwortete ich und ließ mich auf dem Boden nieder. Schnell stand ich wieder auf, ich wollte nicht aufblicken müssen, dafür fehlte mir der Respekt. Als ich nach kurzem Schweigen nochmals auf den gelben Knopf drückte, begann er zu lachen. „Das hilft nichts, alles nimmt seinen Lauf, daran können Sie nichts ändern, und noch nicht einmal ich.“

„Es ist dieses ‚noch nicht einmal ich‘, das Sie verwenden, in dem das ganze Problem begründet ist“, sagte ich, „ich hoffe, Sie verstehen das.“ Er dachte kurz nach. „Ich spüre, dass Sie mich nicht mögen, und dafür haben Sie wahrscheinlich gute Gründe, aber können wir einander nicht duzen, der Raum ist zu klein für ein ‚Sie‘, mit diesem ‚Sie‘ verbrauchen wir noch den ganzen Sauerstoff.“ In Gedanken schrieb ich das niederländische Wort für Papst in meiner nächsten Kolumne mit einem kleinen ‚p‘, dieser Gedanke gefiel mir, ich hätte es früher tun sollen. „Ich verstehe den Hass, glaube mir, ich verstehe den Hass, den ich auf diesem Quadratmeter gemeinsam mit dir einatmen muss.“ Der Papst hatte nicht auf meine Antwort gewartet, vielleicht machen Päpste so etwas nicht, aus Angst, dass ihnen die Antwort nicht gefällt.

„Sie sagen, dass Sie den Hass verstehen“, meinte ich, „warum hören wir das dann nicht? Wo bleibt der laute Aufschrei der Empörung, der Wutausbruch, der zu Handlungen führt? Wo bleibt die neue Bescheidenheit, die Reform, nach der die Kirchenbasis verlangt? Wo bleibt eine glaubwürdige, vollständige Säuberung des Apparats, dessen Oberhaupt Sie sind? Wo bleibt die Antwort auf die Fragen der Überlebenden?“

Er rutschte, sichtlich unwohl, hin und her, holte eine Nicorette aus seiner Westentasche und bot mir eine an. „Ich kenne das Leid der Opfer, über das du sprichst“, antwortete er und schluckte ein wenig überflüssigen Speichel hinunter. „Das kennen Sie nicht.“ Das Duzen gelang mir nicht. „Es sind Überlebende“, sagte ich, „denn die Opferrolle haben Sie sich selbst zugewiesen, indem Sie versucht haben, zu erklären, wie es so weit kommen hatte können, und dafür um Verständnis ersuchten haben, indem Sie über ‚andere Zeiten‘ gesprochen haben, indem Sie versucht haben, das Gewicht der Kirche zu minimieren, und behauptet haben, dass es in den Familien viel schlimmer zugeht, viel häufiger vorkommt, dass es also in Ihrer Kirche noch gar nicht so arg ist. Indem Sie keine konkreten Vorschläge für Entschädigungen formuliert haben, indem Sie die Untersuchung aller Fälle kircheneigenen Kommissionen übertragen haben, indem Sie keine Einsicht in alle Akten gewähren und Täter nicht in angemessener Form aus der Kirche entfernen.

„Ich habe mit Opfern gesprochen“, sagte er lauter. „Aber haben Sie auch zugehört?“, fragte ich. Er fragte zurück, ob ich denn genau wüsste, was sie wollen. Ob ich eine klare Tendenz erkennen könnte, welche Hilfe sie wollen. Ich nahm ein doppelt gefaltetes Blatt aus meiner Innentasche und gab es ihm. Er holte eine Brille hervor und begann zu lesen. „Entschuldigungen des Papstes als Oberhaupt der Kirche“, er las leise weiter. Dann wieder laut: „Entschuldigungen des Papstes als Staatsoberhaupt des Vatikans“, gefolgt von Stille, „Veröffentlichung aller Akten“, mhm, „Kirchenrecht untergeordnet…“, „nichtklerikale Beschwerdestelle unter der Kontrolle eines Gerichts…“, er las ungefähr fünf Minuten leise weiter. Dann faltete er das Blatt sorgfältig an den Faltlinien zusammen und steckte es ohne zu fragen in seine Innentasche. Er wunderte sich, dass ihm niemand je zuvor eine solche Liste gegeben hatte. „Wann haben Sie jemals darum gebeten?“, fragte ich.

„Und wie viele Beschwerden gibt es mittlerweile in Belgien?“, erkundigte er sich und steckte seine Brille ein. „Laut meinen Daten aus allen Beschwerdestellen, auch jenen abseits der Kommission, sind es 651“, sagte ich. „Wie zählst du?“, fragte er. „Richtig“, antwortete ich. Er blickte mir lang in die Augen und senkte dann den Kopf.

Der Aufzug schoss ein Stück nach oben. „Jede noch so kleine Bewegung ist in dieser Situation willkommen“, meinte der Papst.

„So ist es mit allem. Weißt du, dass Simenon einmal mit Hitler im selben Pariser Aufzug stand?“, fragte ich.

„Ich hoffe, du ziehst daraus nicht zu viele Parallelen?“

Ich sagte, dass ich es niemals wagen würde, mich mit Simenon zu vergleichen, und obwohl er verstand, was ich meinte, streckte er seine Hand aus und seufzte: „Ich muss darüber einmal in aller Ruhe nachdenken, aber unmöglich ist deine Liste nicht.“ Ich sagte, dass er das besser nicht mit zu großer Ruhe tun sollte. Dass schon zu viel Zeit verstrichen ist und die Situation davon nicht besser wird.

„Nach der WM“, meinte er, „nach der WM, vorher bekomme ich nicht alle meine Leute zusammen, ich muss ihnen auch etwas Ruhe gönnen. Kommst du am 31. Oktober auch auf den Petersplatz demonstrieren?“ Ich erwiderte, dass ich sicher in der Nähe sein werde. „Gut, dann sehen wir einander hoffentlich noch einmal.“

Als sich die Aufzugstüren endlich öffneten, ging er weit nach vorne gebeugt den Gang entlang. An Tür 31 drehte er sich kurz um. Er holte das Papier aus seiner Innentasche und streckte es zum Abschied in die Luft. „Wann erscheint es?“, rief er.

„Vor der WM!“

Ich ließ seinen Beichtstuhl Beichtstuhl sein und nahm die Treppe in meinen Stock. Zu viel Aufzug in Rom ist für niemanden gut!

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Verstand auf null, Blick auf unendlich

Ich weiß jetzt, was los ist. Es hat mich lange beschäftigt und ich habe noch länger darüber nachgedacht, aber Österreich ist eingeschlossen von acht Ländern!

Okay, höre ich Sie sagen… und weiter?

Nun, Wasser ist kein Land. Und ich möchte über Wasser sprechen. Wasser ist, als ob man sich – zumindest an einer oder einigen Landesgrenzen – ausdehnt zu etwas, das weiter ist, größer als man selbst. An der belgischen Küste gibt es keine Grenze, fühlt sich der Mensch nicht eingeschlossen. Und das ist noch Peanuts im Vergleich zum Norden, Westen und Süden Frankreichs, sogar Deutschland und vor allem Spanien und Portugal, Italien und Griechenland kennen das gewaltige Gefühl des unbegrenzten Schauens. ‚Uneingeschlossenheit’. Sie haben weniger Nachbarn und einen weiteren Blick. Ins Unendliche.

Für die Österreicher sieht das doch etwas anders aus. Und es bestimmt meiner Meinung nach in großem Ausmaß ihre Mentalität. Mit so vielen Ländern rundherum entsteht vielleicht die Neigung zu Xenophobie? Wie tief verwurzelt ist die Angst, eines schönen Morgens aufzuwachen und acht andere Völker vor deiner Tür stehen zu sehen? Mit dieser Bedrohung kann der Österreicher nicht umgehen, selbst wenn er weiß, dass dies nicht geschehen wird… Es könnte geschehen, und das genügt für meine neuen Landsleute, noch stärker die Abgeschlossenheit ihres eigenen Hauses, ihres Dorfes oder ihrer Gemeinschaft zu suchen. Noch mehr in sich selbst gekehrt auf den Rest der Welt zu blicken, den sie eigentlich nicht sehen wollen.

Wer kein Meer hat, nennt wie der Wiener seinen See ‚Meer‘, und blickt von Ufer zu Ufer. Weiter geht es nicht. Wie schön der eingeschränkte Blick auch sein mag, das lebensnotwendige Uferlose existiert nicht. Sie schauen immer auf irgendetwas, die Österreicher. Das kann man wortwörtlich auffassen, aber auch im übertragenen Sinn. Einen massiven Berg in den Alpen denkt man sich nicht so einfach weg. Und wenn sie dann schon einmal ganz oben auf dem Gipfel stehen, sehen sie nur Täler. In erster Linie Täler. Für Luft müssen sie immer nach oben blicken. Wissen Sie, was das mit einem Menschen macht? Nicht waagrecht ins Unendliche blicken zu können? Dann läuft man ständig mit der Nase zum Himmel gerichtet herum. Es gibt geringere Gründe, in Therapie oder in die Kirche zu gehen.

Ich bin mir sicher, dass einem Tiroler, würde er an der französischen Riviera oder am Atlantik wohnen, das schmerzhafte Jodeln innerhalb eines Tages vergehen würde. Es gibt nichts mehr, zu dem oder gegen das man jodeln könnte, es gibt kein Echo mehr. Mit seinem eigenen Echo leben zu müssen, Tag ein, Tag aus, das hat doch etwas Beängstigendes!

Da sie nicht ihren ‚Blick auf unendlich‘ stellen können, stellen sie also ihren Verstand auf null. Denn wer will noch über etwas nachdenken, wenn es dafür keinen Raum gibt? Ich wünsche den Österreichern ein richtiges Meer mit hohen Wellen und viel Wind. Hin und wieder muss man einfach mal Frischluft schnappen, das Gehirn lüften und die Welt mit einem frischen Blick betrachten…

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Wir haben es nicht gewußt! Kollaboration in der Kirche anno 2010

Es war ihm wichtig, zu erwähnen, dass er noch immer Jesuit ist. Ich baute eine kleine Pause ein und dachte kurz darüber nach, woher es kam, dass ich niemals das Bedürfnis hatte, jemandem zu erzählen, dass ich Schriftsteller bin. Vielleicht ist mein Beruf weniger sakral, obwohl wir beide eine Berufung brauchen. Vielleicht liegen unsere Ausgangspunkte zu weit auseinander, er will schließlich Seelen retten, ich möchte das Herz berühren. Bedürfnisse können durchaus verschieden sein.

Als die Pause lange genug gedauert hatte, unterbrach ich die Leere, brachte das Nichts zurück zu einem Etwas und fragte, ob er damit ein Problem habe. Mit seinem Jesuiten-Dasein, das hatte glücklicherweise auch er sofort verstanden. „Immer mehr”, antwortete er fast im Flüsterton, „eigentlich immer mehr.” Ich war diese Demut nicht gewohnt, wollte ihm das auch verdeutlichen. Ich suche mir Gesprächspartner auf Augenhöhe, Unterwürfigkeit passt nicht zur Kirche.

Er war zehn Jahre jünger als ich, es hatte also Beichtstunden genug gegeben, um zu wissen, wie das Leben läuft, zufällig in dieser Stadt, zufällig an diesem Ort, an dem ich mich befand, obwohl Zufall in dieser Situation wahrscheinlich unwahrscheinlich ist.

Woran ich derzeit arbeite, fragte er, um eine zweite Stille zu vermeiden.

An Jesuiten, sagte ich frei von der Leber weg und ließ seinen Blick nicht los. Er errötete wie ein Dreizehnjähriger.

Er begriff sofort, was vor ihm lag, dass etwas Besonderes auf der handgeschriebenen Seite stand, es handelte schließlich auch ein wenig von ihm. Er betrachtete das große A4-Heft mit blauen Zeilen, die auf den Kopf gestellten Sätze. So sah auch er aus, so als wäre seine Welt ein wenig auf den Kopf gestellt, auf der Suche nach dem festen, blau vorgedruckten Leitfaden, an dem sich meine noch zögerlichen Sätze festklammerten, weil sie sonst verloren gehen würden. Rohfassung, das unvermeidliche Vorspiel. Wörter brauchen einen Kontext, sonst laufen sie Gefahr, schnell zu einem zusammengewürfelten Haufen Nichts abzurutschen, unten auf der Seite, bis jemand die mühsam zusammengetragene Aussage wie Krümeln vom Blatt fegt und unter der Bank verteilt, bis morgen die Putzfrau kommt.

Es fiel ihm schwer, ins Gespräch zu finden, das er in Gesellschaft eines zufälligen Landsmanns zu etwas zusammenfügen wollte, das Sinn ergibt. Sinnhaftigkeit ist für einen Jesuiten lebenswichtig, aber wenn irgendwie der Mut fehlt, die Leidenschaft gestorben ist, das Leben eher als Last denn als Lust empfunden wird, dann kommt ein Dialog nur mühsam in Gang. Wir gaben einander dennoch alle Chancen, und ich bestellte seinen zweiten Kaffee.

Ich beschloss, dann eben über Rik Torfs, den Professor für Kirchenrecht an der Katholieke Universiteit Leuven, zu sprechen. Torfs ist eine gute Eröffnung, selbst bei einem jungen Jesuiten, auch mit seinem aktuellen Buch (Wie gaat er dan de wereld redden?), dem ich noch die letzten achtzehn Seiten schuldig geblieben bin. Ich bemühte mich also um eine Eröffnung und sprach über die neue Kollaboration. Wie interessant es ist, dass Torfs Kollaboration neu definiert und versucht, diesem Wort eine Dimension zu geben, über die nachgedacht werden muss. Und dass ich meinte, dass er, sollte er das Buch heute noch einmal umschreiben, Kollaboration mit all den kirchlichen Machthabern in Zusammenhang bringen würde, die stillschweigend Missbrauchsfälle von der einen Pfarrgemeinde in die nächste, vom Kolleg in der Stadt in eine Kongregation auf dem Land verschoben. Weil dadurch das Problem verschoben und vielleicht alles wieder gut wird oder zumindest alles ruhig bleibt.

Worauf ich eigentlich hinaus wolle, fragte er unschuldiger als er wirkte. Ich versuchte, die Situation mithilfe eines Leserbriefs, den ich am selben Tag in einer Zeitung gefunden hatte, zu skizzieren: Ein Mann berichtete, dass ihm seine Liebste stets eine SMS schicke, bevor sie mit jemand anderem Sex hatte. „I love you“, stand jedes Mal darunter. Sie ging nicht davon aus, dass er wusste, wo oder mit wem sie den Abend verbrachte. Er wusste es aber. Sie bat in ihrer kurzen Nachricht schon im Voraus um Vergebung. Ob sich Priester vielleicht bekreuzigten, bevor sie sich vergingen? Ein schnelles Kreuz als Zeichen einer ebensolchen Vergebung im Voraus? Der Leserbrief kam nicht gut an, also kehrte ich zu meinem ursprünglichen Gedanken zurück. Dass in fast jedem Interview mit Verantwortlichen der kirchlichen Hierarchie zu lesen ist, dass der Interviewte vom systematischen Missbrauch in seiner Pfarre, seinem Kolleg, seinem Kloster, seiner Jugendorganisation oder einer anderen Form des ‚pädagogischen Zusammenseins’ nichts gewusst hätte. Und dass nicht nur die Ähnlichkeit mit der ‚Entschuldigung‘ von österreichischen und deutschen Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg neuerliche Wut auslöst. Die Entrüstung ist umso größer, weil dieser anhaltende und unbestrafte, versteckte und verleugnete Missbrauch in Friedenszeiten von Priestern begangen wurde. Hier kam kein braun-diktatorischer Auftrag zum Genozid, hier geht es um eine neue Form der Kollaboration, dieses Mal gestützt auf Geheimhaltung und verlogenes Schweigen, Wegschauen und Schutz der eigenen Leute.

Als er weiterhin schwieg, nahm ich Torfs’ Buch zur Hand und las ihm eine Passage daraus vor:

„Das Merkwürdige und vielleicht auch Schreckliche an der Kollaboration ist, dass man nichts tun muss, um furchtbare Fehler zu begehen. Einfach mitmachen, ausführen, Gehorsamkeit bis ins kleinste Detail genügt. Der Kollaborateur (…) rutscht geräuschlos in die Kriminalität ab, indem er nichts macht. (…) Wer nicht kollaborieren will und gleichzeigt nicht den Mut hat, Widerstand zu leisten, kann natürlich nach Fluchtwegen suchen. Aber das ist nun genau das Problem: Flüchten, die Suche nach dem Windschatten, die Entscheidung für strikte Neutralität, das bewusste Nicht-wissen-Wollen ist eine Haltung, die man in einer demokratischen Gesellschaft in Friedenszeiten möglicherweise noch durchgehen lassen kann, aber nicht in Zeiten von Grausamkeit und einer Verletzung von allem, was menschlich ist. (…) Ab wann wird das Nichtwissen zu Schuld, wann wird es zur Kollaboration?”

Er nippte an seinem Cappuccino und ließ mich nicht aus den Augen, solange ich selbst auf das Blatt schaute. Ich sah auch, dass er ständig nickte, als ob er in dieser Bewegung hängengeblieben wäre. Ein Schriftsteller sieht das, der hat ein drittes Auge für den Leser, der weiß, wann jemand an seinen Lippen hängt, auch wenn er die Geschichte eines anderen vorträgt. Ich hatte das Gefühl, dass er wusste, worauf ich hinaus wollte, er kannte Torfs, er hatte denselben Text gelesen, jedoch ohne zu meiner Schlussfolgerung zu kommen. Ein Jesuit lässt sich nicht lenken, dachte ich, und dann schwindet das Bedürfnis, dies zu versuchen, genauso schnell wie die Notwendigkeit, mit ihm über etwas zu diskutieren. Was zu nahe an die Haut geht, wird abgeschüttelt. ‚IHS‘. Ein Logo, ‚a brand’, ein Zeichen, das für irgendetwas steht, sonst hätten sie es nicht erfunden. Ein Zeichen, das inzwischen für viele zu einer Brandmarkung geworden ist, und es war diese Scheu, mit ihm darüber zu sprechen, die der Stille zugrunde lag. Aber ich hatte Zeit und er war in Not. Schicksalsgenossen unter sich. Und beide mit Respekt vor Torfs, obwohl der Professor niemals vermuten hätte können, dass ein frischer Text aus dem Jahr 2009 so treffend für die gar nicht frische Kirche im Jahr 2010 sein würde, wie mein zufälliger Gesprächspartner Wort um Wort entdeckte.

Ich sagte ihm, dass jeder derzeit auf der Suche ist nach dem kausalen Zusammenhang zwischen Zölibat, geschlossenen Gemeinschaften, der Zeit zwischen den Sechziger- und Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts, patriarchalen Erziehungssystemen und Geistlichen einerseits und allem, was seit mehr als ein paar Monaten die Zeitungen füllt andererseits. Zuerst in den USA, dann in Irland, danach in Deutschland und nun in Österreich. Es scheint kein Ende in Sicht, darüber waren wir uns einig. Missbrauch vermittelt uns ein unbehagliches Gefühl, wir haben noch keine angemessene Haltung gefunden, zuerst kommt die Empörung, dann das Gefühl der Übelkeit, danach die Wut, dann der Hass. Zu viel Haltung würde auf Verständnis hindeuten, und das ist in dieser Phase des Faktensammelns wenn schon nicht unangebracht, so doch zu früh. Prozesse haben ihren eigenen Ablauf.

Er hatte keine Antwort auf meine Frage, warum in Flandern noch nicht die Hölle los ist. Warum die Zeitungen nur über das Ausland berichten und sich nicht auf die Suche danach machen, was im eigenen Land geschehen sein könnte. Oder sind wir wirklich so anders?

Er hatte keine Meinung, als ich einigermaßen gemein fragte, ob die Muttermilch in Flandern etwas reiner ist. Ob wir unsere Kinder anders erziehen, ob unsere Eltern wachsamer und misstrauischer waren, was hinter den geschlossenen Türen unserer Schule im Gange war, und dadurch diese Schmach an uns vorüberging. Oder sind wir besser im Verdrängen? Sind unsere Priester besser ausgebildet, empfand er sich selbst als besser vorbereitet auf seine Aufgabe, war er mehr im Reinen mit seiner eigenen Sexualität als seine ausländischen Brüder? Wählt die Kirche in Flandern nur nachweisliche Nicht-Kinderschänderkandidaten aus oder sind wir so erzogen, dass niemand von uns jemals darüber sprechen wird? Weil wir das Privileg hatten, zu studieren, Teil der katholischen Elite zu sein, von der jedes Jahr aufs Neue bewiesen wurde, dass sie an der Universität die besten Chancen hatte?

Wollen wir unsere flämische Elite nicht ins Gerede bringen? Die lange Liste ehemaliger Studenten, die diese überragende Erziehung genossen und dank des einen oder anderen Kollegen heute wie Koniferen in unserer Gesellschaft glänzen?

Mein zufälliger Gesprächspartner fand es ungerecht, dass sich die ganze Berichterstattung rein auf die Kirche konzentriert. Dass außerhalb der Organisationen der Kirche mindestens genauso viele – wenn nicht noch mehr – Kindesmisshandlungen und genauso viel sexueller Missbrauch von Jugendlichen stattfand. Eine Technik wie die andere. Sagen, dass das Verbrechen auch von anderen begangen wird, verringert natürlich das Gewicht des Verbrechens nicht, aber was kann er anderes sagen? Wer kann mit den Informationen in irgendeiner Form rational umgehen? Die Opferrolle, in die er zu schlüpfen versuchte, die Berufung darauf, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelt, ist typisch und hilft manchmal, aber in diesem Fall war es eine feige Verdrehung der Realität. „Andere auch!” „Wir sind nicht allein.” Sie stehen tatsächlich mit ihrem Problem nicht allein da. Als ich ihm das mit vielen Worten sagte, mit einer unglaublichen Freundlichkeit und Offenheit, und hinzufügte, dass es trotz seines Arguments doch noch einen Unterschied gab, ließ er sich hilflos zurücksinken und trank sein Glas Wasser aus.

Der Unterschied muss in der besonderen Rolle gesucht werden, die die Diener Gottes – also auch er – sich selbst zugewiesen haben. In der moralischen Instanz, der heiligen Mission, die die Kirche seit Jahrhunderten für sich beansprucht, im gesellschaftlichen Status der Priester und Erzieher, in der fast allgemeinen Immunität, die sie aufrechtzuerhalten versuchen. Die Kirche ist dabei nicht nur Täter, sondern krallt sich auch daran fest, Zeuge und Richter zugleich zu sein. Die Kirche hatte ein bis vor Kurzem hermetisch abgeriegeltes eigenes Gewissen, obwohl sie sich als Institution und Instanz immer mehr um das Gewissen ihrer Gläubigen gekümmert hat. Schweigen ist in diesem Fall Mittäterschaft, Kollaboration in ihrer ärgsten Form.

„Wenn Führer ins Wanken geraten, strauchelt das Volk”, schreibt Torfs. Wir dürfen das inzwischen im übertragenen Sinne korrigieren zu: „Wenn das Volk spricht, geraten die Führer ins Wanken”.

Es ist nur noch die Frage, wann in Flandern endlich jemand zu sprechen beginnt.

„Eine Frage der Zeit”, sagt mein Landsmann und bleibt gerne noch ein wenig sitzen. Ich auch. Ein Jesuit und ein Ignostiker, beladen mit demselben Problem, im Ausland darüber besorgt, was zu Hause noch nicht einmal begonnen hat. Wartend auf den Ersten. Denn Statistik kann man zwar leugnen, aber nicht untergraben, nicht interpretieren.

„Wer kniet, erhebt sich, um jene, die nicht knien, zu erniedrigen”, zitiere ich Torfs.

Wir beschlossen beide, vor niemandem mehr zu knien.

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Die töchterliche Macht

Mein ältester Augenstern plant ein Kind. Wohlüberlegt, so wie Dreißigjährige das machen, durchdacht, wie Skorpione so etwas in Angriff nehmen, emotional beladen, wie Töchter damit umgehen.

Ich bin ihr Vater. Das bedeutet also, dass ihre Entscheidung auch für mich Folgen hat. Sie hat die Macht über meinen Status, meine Position in unserer Genealogie, Sippenkunde ist ein herrliches Wort. Sie entscheidet, ob sich mein Name eine Generation nach oben verschiebt oder ruhig dort bleibt, wo er derzeit ist, an einer Stelle, an der ich mich eigentlich ausgezeichnet fühle, ich habe meinen Zweig im Stammbaum gefunden.

Ich bin plötzlich zu der ernüchternden Erkenntnis gekommen, dass eine Tochter bestimmen kann, ob und wann ihr Vater Großvater wird. Das empfinde ich als einen relativ großen Eingriff in meinen sorgsam erworbenen Platz in dieser an sich schon komplexen Gesellschaft. Dass jemand anderer, und dann auch noch jemand, der mir so wichtig ist, etwas an meiner Stelle bestimmen kann, war mir eigentlich nie bewusst. Der jahrelange Kampf gegen alles und jeden, das oder der ohne meine Zustimmung über mich bestimmen könnte, wird mit einer einfachen Tochterentscheidung vom Tisch gefegt. Machtlos ausgeliefert muss ich mich mit der Tatsache anfreunden, dass jemand anderer über meinen zukünftigen Kosenamen entscheidet (Opa, Papi, Vati, Alter), mich mit Konnotationen und Attributen überhäuft, die dem Großvaterdasein anhaften, ein neuer Sprachgebrauch und ebensolche Erwartungen, ohne dass ich Einspruch erheben könnte. Das kannst du diesem Mann nicht antun. Dazu hat er viel zu lange gegen die Symbolik und das Vokabular angekämpft, die laut lebenswichtiger Magazine mit seinem Alter einhergehen sollen. Dieser (Noch-nicht-)Großvater ist bis zum heutigen Tage einfach Vater, also jünger, was dynamischer impliziert. Das ‚Heute‘ bestimmt meinen Alltag – ‚Morgen‘ ist noch kein Konzept. Ich kaufe kein Mountainbike, um mir die Zeit zu vertreiben. Ich wüsste nicht, welche Zeit. Ich nehme nicht an Gruppenreisen mit anderen vitalen Großeltern teil und spreche nicht über Enkelkinder. Ich fahre nicht zum Golfen an die Algarve und ich spaziere nicht sorglos durch die Parks in den Cotswolds, um mich über Blumen und Bäume zu unterhalten. Ich brauche meine Stimme, um meine eigene Rasselbande zu übertönen. Ich wechsle verdammt noch mal noch jeden Tag Windeln!

Das heißt nicht, dass ich nicht auch die meiner (eventuell zukünftigen) Enkelkinder wechseln würde, wenn es sein müsste, solange sie nur nicht Opa zu mir sagen. Sobald sie hören können, bringe ich ihnen bei, mich beim Vornamen zu nennen. Angriff ist die beste Verteidigung.

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Die unerwartete Glückseligkeit beim Bemalen van Porzellan

Am Samstag werde ich 55. Das passiert mehreren Leuten, habe ich mir sagen lassen, aber ob es viele Väter meines Alters gibt, die an einem wolkenverhangenen Donnerstagnachmittag mit ihrer fünfjährigen Tochter einige Stunden lang Keramik bemalen, wage ich zu bezweifeln. Ein halbes Jahrhundert liegt zwischen uns auf dem Tisch, die meisten meiner Freunde sind inzwischen Großvater und spielen Golf.

Und während meine Tochter sehr selbständig und eigensinnig eine mattweiße Kaffeetasse mit dazu passender Untertasse aus den Regalen auswählt, ihre Farben zusammenstellt, sich eine Schürze umbindet und einen Drehteller vor sich aufstellt, berät sie mich mit natürlicher Selbstverständlichkeit, welchen Pinsel ich am besten verwenden soll und warum ich lieber eine Vase und nicht auch eine Kaffeetasse bemalen soll.

Wir sind hier zum ersten Mal, ein großes Atelier an der Ecke unserer Straße. Sie geht mit allem hier um, als ob wir schon unser ganzes Leben lang hierher kommen würden, und obwohl Keramik kein Porzellan ist, fühle ich mich wie der sprichwörtliche Elefant.

Die Eventualität, dass sie während des Malens kurz einmal nicht sprechen könnte, erweist sich als naiver Wunsch, ich bekomme eine volle Ladung Ratschläge ab. Es ist die absolute Unbefangenheit, mit der sie ihre Farben aufträgt, das totale Fehlen eines Plans oder Ziels, die befreiende Unabhängigkeit von irgendeinem Ergebnis, die mich verwirrt und meine Hände lähmt.

Mein Dasein als ‚neuer Vater‘ wird schwer auf die Probe gestellt. Von einem fünfjährigen Kind.

Kann ich das noch? Habe ich es noch in mir? Bin ich noch dazu in der Lage, mich unbefangen und unbesorgt von Fantasie und Kreativität treiben zu lassen, die selbst bestimmen, wie das Ergebnis aussehen wird? Denn sie hat die absolut unverbildete Freiheit, sich keine Gedanken über das Ergebnis zu machen. Ergebnis ist noch kein Ziel.

Sie sieht, dass ich zögere, zittere und nachdenke. Plötzlich macht sie einen dicken orangefarbenen Punkt auf den Bauch meiner noch weißen Vase und sieht mich kurz lachend an. Dann spricht sie weiter und malt.

Mit fünfundfünfzig bedeutet ein orangefarbener Punkt von einer Fünfjährigen mehr, als ich jemals zu denken gewagt hätte. Morgen holen wir unsere Kunstwerke ab. Gebrannt und glasiert. Die Vase mit dem einen, einzigen orangefarbenen Punkt wird wunderschön, so viel ist sicher! Und was hat das alles mit Europa zu tun? Ich musste etwas grübeln, aber das Atelier, in dem wir waren, heißt ‚Made by You‘! An dem Tag, an dem sich Europa das als Slogan auf die Fahne schreiben kann, sind wir dort angelangt, wo wir sein sollten.

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Auch Töchter werden dreissig…

…sogar meine ältere, und ich weiß, was das für sie bedeutet, ich habe es nach und nach erfahren. Es hat mit Entscheidungen zu tun, denn was hinter ihr liegt, wird langsam umfangreich genug, um sich die Frage zu stellen, wie es weitergehen soll. Einen Vater Mitte fünfzig beschäftigt das etwas weniger. Zwanzigjährige denken daran – warum auch immer – noch nicht.

Aber mit dreißig spürt man den Druck, woher er auch kommen mag, vielleicht am meisten von einem selbst, und man möchte Schritte setzen, Entscheidungen treffen, planen und weitermachen.

An ihr Geburtsjahr erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen. China und die USA nehmen diplomatische Beziehungen auf. Pol Pot und die Roten Khmer werden von den vietnamesischen Truppen gestürzt und der Schah von Persien muss nach Ägypten fliehen. Santa Lucia erklärt seine Unabhängigkeit von Großbritannien und in Washington unterzeichnen Anwar as-Sadat, Menachem Begin und Jimmy Carter einen Friedensvertrag. Saddam Hussein wird irakischer Präsident. Israel und Ägypten unterzeichnen das Camp-David-Abkommen und John Wayne stirbt an Lungenkrebs, während Mutter Teresa den Friedensnobelpreis erhält.

Es ist das Jahr, in dem Margaret Thatcher als erste Frau Premierminister von Großbritannien wird und ‚Alien‘ die Kinos erobert. Die ersten ‚Walkmans‘ liegen in den Geschäften, während die Weltraumstation Skylab zurück zur Erde kommt. Die Sandinisten stürzen das Somoza-Regime in Argentinien, einen Monat später stirbt Lord Mountbatten bei einem Bombenanschlag der IRA in Sligo. Einen Tag später explodiert sogar eine IRA-Bombe auf dem Grand Place in Brüssel. Der NATO-Oberbefehlshaber Alexander Haig entgeht im selben Brüssel einem Anschlag der Baader-Meinhof-Gruppe. In Schweden dürfen Eltern ihre Kinder nicht mehr körperlich züchtigen, während zwei Familien aus Ostdeutschland mit einem Heißluftballon in den Westen flüchten.

Der Papst küsst als erster Papst US-amerikanischen Boden, Nelson Rockefeller stirbt an einem Herzinfarkt, übrigens nicht wegen des Papstes. Und für alle, die der Meinung waren, dass die Autobauer erst jetzt in der Krise sind: Chrysler bat die US-Regierung um 1 Milliarde Dollar Hilfe, um eine Insolvenz zu vermeiden. Die Geschichte wiederholt sich. Bokassa I. verschwindet von der Bildfläche, Panama bekommt den Panamakanal von den USA zurück und Namco bringt in Japan das Spiel Pac-Man auf den Markt. Rhodesien wird Zimbabwe und die erste europäische Ariane-Rakete wird vorgestellt.

Der Post-it-Notizblock wird erfunden und zweihunderttausend Menschen fordern beim ersten ‚Gay Rights March‘ in Washington das Ende der sozialen, wirtschaftlichen, rechtlichen und gesetzlichen Unterdrückung von Schwulen und Lesben. Das machen sie heute auch noch. Überall, manchmal mit mehr, manchmal mit weniger Erfolg. Belgien hat in diesem Bereich eine Vorreiterrolle gespielt, Österreich beschloss die Homo-Ehe im Parlament erst Ende 2009. Aber immer noch mit einer von der christdemokratischen ÖVP aufgezwungenen Einschränkung: Es darf nicht im Standesamt geheiratet und gefeiert werden, das ist noch immer ein Hetero-Privileg, die offizielle Trauung findet in lokalen Ämtern statt. Adoption kommt nicht in Frage, künstliche Befruchtung ist verboten, keine Kinder für diese Menschen. Scheinheiliger Fortschritt.

Und ich erinnere mich an ihr Geburtsjahr, als wäre es gestern gewesen, weil das alles 1979 an mir vorbeigegangen ist. Denn meine Älteste wurde geboren. Was gibt es Weltbewegenderes für einen Vater als eine Tochter?

Ich wünsche ihr von Wien aus alles Gute zum Geburtstag. Mit der Botschaft, dass mir so einige vierzig- und sogar fünfzigjährige Frauen erzählt haben, dass der dreißigste Geburtstag gar nicht so schlimm ist.

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Ich habe heute die heilige Maria gesehen…

Ich habe heute die heilige Maria gesehen. Die Jungfrau, meine ich. Sie mich auch. Ich war gerade auf dem Weg zum Supermarkt, wie meistens am Freitagnachmittag, eingemummt in Schal und eine dicke Jacke. Im Winter muss sich der Mensch schützen. Überall lauern Gefahren: die Schweinegrippe, eine schleichende eitrige Angina oder die Vorboten einer Lungenentzündung. Die Verantwortung für den eigenen Körper nimmt mit dem Alter zu.

Sie war mir nicht gleich aufgefallen, wie sie da so stand, etwas abseitig im Windschatten des Portals, gelehnt an die Glaswand, die bei jedem Öffnen der automatischen Schiebetür ein paar Millimeter nachgab und vibrierte. Ich habe sie wahrscheinlich deshalb nicht sofort erkannt, weil sie normal gekleidet war, nicht so, wie ich es von der Maria erwartet hätte. Kein edles, langes blaues Leinenkleid mit goldener Bordüre, keine zarten Sandalen aus hellbraunem Leder, die sonnengebräunte Füße umschließen, kein hauchdünner Seidenschal, der die schwarzen Locken verbirgt. Es ist Winter!

Es war die Aura, die mich ergriff. Nicht dieser schwebende Kranz, nicht der goldene Heiligenschein, nicht die Suggestion von Heiligkeit, die man von den Bildern kennt. Am Eingang zum Supermarkt hatte sie keine Aura. Sie war Aura. Ganz und gar Aura.

Ich schätzte sie auf ungefähr achtzehn, obwohl ich weiß, dass der Altersunterschied auch das Einschätzungsvermögen beeinflusst. Ein Mann meines Alters hat Bezugspunkte, Freundinnen, Töchter, Freundinnen von Töchtern, und lässt sich mehr vom Gefühl leiten. Der Verstand kommt an zweiter Stelle. Irgendwie hatte die Situation plötzlich etwas Unbehagliches, für mich jedenfalls. Ich war es, der sie schon mehr als eine Minute lang anstarrte, und das ist ganz schön lange für einen älteren Herren, der ein Mädchen fixiert, das seine Tochter sein könnte. Sie schien das allerdings nicht zu stören. Ihr offener Gesichtsausdruck und der warme Blick, aus dem die reine Unschuld sprach, ihre Haltung, die keinerlei Erwartung ausdrückte, und die Selbstverständlichkeit, mit der sie da in ihrer Ecke stand, fast schon lässig, wenn ich dieses Wort im Zusammenhang mit einer Heiligen verwenden darf. Ich war der Voyeur. Sie könnte das niemals sein.

Ich ging etwas verwirrt durch die Glastür, warf noch einen kurzen Blick zurück, steckte einen Euro in den Schlitz des Einkaufswagens und öffnete den Reißverschluss meiner Jacke. Die Warmluftanlage brachte mich zurück zu meiner Einkaufsliste, und ich füllte schnell und systematisch meinen Wagen. Ich kenne das Prinzip, nach dem die Regale eines Supermarkts gefüllt werden.

Zuerst war es wie ein Schock, irgendwo zwischen den Waschmitteln und den Windeln zu begreifen, dass ich unbewusst doch eine Vorstellung von Maria gehabt habe, bevor ich ihr bei lebendigem Leibe begegnet bin. Irgendwo hat sich bei mir ein Bild eingeschlichen, das ich nicht abgewehrt habe. Ein Bild von der angeblichen Mutter Gottes, des Gottes, der so weit weg ist, des theoretischen Sohns, über den ich gerne diskutieren will, über den ich alles lese, was geschrieben wird, aber auch des Gottes, der reines Objekt ist, Akkusativobjekt vielleicht, aber das ist schon alles. Religionsbekenntnis ist etwas für andere.

Maria ist okay. Sie wäre noch in Ordnung, speziell so, wie sie da am Eingang stand. Dieses Bild ist nicht unangenehm, die junge Frau hat schon was – die Aura, meine ich, die ich heute wahrgenommen habe.

Ich kam nicht weiter mit meinen Einkäufen. Eine Einkaufsliste klingt während des Einkaufs ganz anders als zu Hause beim Schreiben. Brauche ich tatsächlich all diese Dinge oder komme ich lieber noch mal, wenn es wirklich nötig ist? Küchenrollen sollte ich einige in Reserve haben und auch Toilettenpapier ist schnell abgerollt, aber weniger genügt auch. Vielleicht essen wir morgen ja in einem Restaurant und ich brauche gar nicht, was ich jetzt so alles vor mir her schiebe?

Woher plötzlich diese Zweifel? Ich zweifle selten, schon gar nicht bei den allwöchentlichen Einkäufen am Freitag. Doch heute überfielen mich die Zweifel, die ich mit nichts anderem in Verbindung bringen kann als mit Maria.

Mariologie ist nicht meine Stärke, aber trotzdem kann ich sagen, dass ich sie kenne. Sonst hätte ich sie nicht erkannt. Zwischen den Konserven und dem Hundefutter hatte ich freie Sicht auf ihren Standort. Sie hatte ihr linkes Bein angezogen und stützte den Fuß unachtsam an der Mauer ab. Obwohl ich Maria eigentlich nicht unachtsam nennen möchte. Eine Frau, die eine Josefsehe eingeht, weiß, was sie tut. Die hat nachgedacht, berechnend oder auch nicht, aber die steht nicht lässig mit angezogenem Bein an der Mauer eines Supermarkts.

Ob sie mir über Gott erzählen dürfe, fragte sie, nachdem ich bezahlt hatte. Sie stand kerzengerade da, ließ zwei perfekte Zahnreihen aufblitzen und strahlte eine Ruhe aus, die ich schon lange nicht mehr erlebt hatte. Die Luft, die wenigen Zentimeter Abstand zwischen uns, vibrierte, ich konnte die schweren Einkaufstaschen nicht mehr halten und stellte sie langsam neben mir auf den Boden. Sie sog meinen Blick auf und betäubte meine Gedanken.

„Darf ich mit dir über Gott sprechen, nur ganz kurz?“

Sang sie oder sprach Maria immer so?

„Über deinen Sohn?“, fragte ich zögerlich.

„Wenn du es so sehen willst, erzähle ich dir gerne von meinem Sohn“, sagte sie freundlich.

Warum sie ein Bedürfnis danach habe, fragte ich und versuchte, eine Haltung anzunehmen, die der heiligen Maria angemessen ist.

„Vielleicht hast ja auch du ein Bedürfnis danach“, sagte sie ohne Fragezeichen am Ende ihres Satzes. Gab es etwas an mir, was dies vermuten ließ? Hatte ich heute Morgen im Spiegel etwas übersehen, das für Maria ein Zeichen war, mich anzusprechen? Vielleicht sah sie, dass ich müde war oder dass ich die Trivialität eines Einkaufs an einem stressigen Freitagnachmittag erkannte, aber das ist doch noch kein Grund, mit mir über Gott zu sprechen. Oder sah sie Dinge, die ich noch nicht wusste? Es gibt schließlich Seher, sie blicken dir kurz tief in die Augen und sagen, dass du in Kürze sterben wirst. Krebs oder Leberzirrhose, Herzinfarkt oder Gehirnblutung – ab einem gewissen Alter, weißt du…

Ich hatte auf jeden Fall kein Bedürfnis danach. Ich spreche selten über Gott, eigentlich nur, wenn man mich danach fragt. Wie damals, als ich meinen Meldezettel in dem stark frequentierten Büro im fünften Stock des Bezirksamts in Wien ausfüllte und gebeten wurde, auch noch mein Religionsbekenntnis einzutragen. Damals dachte ich kurz an Gott, ganz kurz nur, eher um ihn auszuschließen denn als Option.

„Gott ist keine Option“, sagte sie freundlich, aber bestimmt.

Nein, Gott ist keine Option. Ich war überrascht, dass sie wusste, woran ich dachte, aber ich war auch ganz klar ihrer Meinung.

„Ein Sohn ist keine Option“, fuhr sie fort, „er wird geboren, wächst, fällt und steht wieder auf, wird erwachsen und stirbt. Mit Ausnahme von einem.“ Wie ein Wort für verschiedene Menschen eine unterschiedliche Bedeutung haben kann, dachte ich, während ich die Einkaufstaschen hochhob und an ihren jung verstorbenen Sohn dachte. Ich nannte ihr meinen Namen, sagte, dass wir einander wahrscheinlich immer in allem missverstehen würden, und wünschte ihr einen schönen Abend. „Tiefkühlprodukte“, fügte ich noch hinzu und deutete mit meinem Kopf auf die Tasche in meiner linken Hand. Ich wartete, um zu sehen, ob sie noch etwas zu vergeben hatte. Eine Zeitschrift oder ein Obdachlosenblatt, den Wachturm oder einen Segen, meine Sünden vielleicht. Sie schenkte mir ein mildes, warmes Lächeln.

Als ich mich nach drei unsicheren Schritten kurz noch einmal umdrehte, war sie verschwunden. Zwei Straßen weiter steckte ich gerade den Schlüssel in die Haustür, als jemand hinter mir fragte: „Haben Sie vielleicht meine Mutter gesehen?“ Ich drehte mich erschrocken um, aber ich sah niemanden. „Sie stand eben noch am Supermarkt”, sagte ich laut zu ‚Niemand‘ und nahm den Aufzug nach oben. Als die Aufzugstür einschnappte und sich die Kabine nach oben zu bewegen begann, schien es, als ob sie niemals mehr anhalten würde.

Reacties uitgeschakeld voor Ich habe heute die heilige Maria gesehen…

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Hunger

„Hunger“, sagt er und zeigt begierig auf die Keksdose gut zwei Meter über ihm in einem der Küchenregale.

„David, das Essen ist in zehn Minuten fertig, du bekommst jetzt kein Keks.“

„Hunger“, wiederholt er und sieht mich mit diesem Blick an, dem ich als Vater nicht widerstehen kann. Ich halte mich zurück und versuche nicht, ihm zu erklären, dass ‚Hunger‘ etwas anderes ist als das, was er will. Timing ist alles, Erziehung ist kein Kontinuum.

Ich sehe nach, ob im Flur neben der Küche jemand ein Problem damit haben könnte, dass ich meinem 20 Monate alten Sohn eine Süßigkeit gebe, bevor das Abendessen fertig ist. Die Luft ist rein. Ich hole die Keksdose aus dem höchsten Regal, nehme den Deckel ab und setze mich auf den Boden, lehne mich mit dem Rücken an die Spülmaschine. Er wackelt drei Windelschritte in meine Richtung, sucht sich einen Platz auf meinem Oberschenkel und wartet geduldig. Er darf wählen und nimmt sich Zeit. Er streicht mit seinem Fingerchen über das Angebot, berührt ein mit Zucker bedecktes, viereckiges Keks und streichelt noch ein paar andere. Eines mit Schokoladestückchen und eines in Herzform.

„Eines“, sage ich.

„Ja“, antwortet er. Ich hätte genauso gut sagen können, der Eiffelturm sei explodiert.

Er nimmt ein Zuckerkeks, gibt mir seinen Schnuller und nimmt ein Schokoladekeks in seine freie Hand. Er knabbert mit Hasenzähnen am Rande seines Glücks. Er lässt sich sanft nach hinten fallen, lehnt sich mit seinem warmen Körper an mich und vergisst die Welt. Das Zuckerkeks ist schnell weg.

„Auto“, sagt er.

Ich hebe seinen kleinen roten Traktor vom Boden auf und gebe ihn ihm in seine frei gewordene Hand.

„Flugzeug.“

Auch das aus Zaventem mitgebrachte KLM-Flugzeug gebe ich ihm in die Hand.

Er sieht mich an. Ich sehe ihn an.

Er lacht. Ich schmelze.

Männer unter sich, auf dem kalten Küchenboden, und keine Zeugen.

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Morgen wissen wir mehr…

Ich kannte Harry nicht. Und er kannte mich nicht. Er lag auf dem Gehsteig meiner Straße, bleich, nein, eher grau, und verstört, er sprach nicht und sein Kopf blutete.

Ich hatte einen schönen Nachmittag gehabt, hatte Freunde mit einer tollen Idee für einen neuen Film getroffen, das Wetter war mild und die Begeisterung über das Projekt so aufwühlend wie das Glas Wein, das wir darauf tranken. Zu Hause warteten die Kinder auf ihr Abendessen, ich spazierte glückselig um die Straßenecke und stolperte sozusagen über Harry.

Eine Nachbarin, die mit ihrem Enkelkind im Buggy unterwegs nach Hause war, versuchte, mit Harry zu sprechen. Ich bat sie, die Rettung zu rufen. Harry murmelte, dass er nur noch ins Bett wolle. Dass das Krankenhaus keine Lösung sei. Er würde stundenlang vergessen werden und schließlich wieder mit dem Taxi nach Hause fahren müssen. Harry hatte Erfahrung. Er hielt sich halb im Liegen krampfhaft am Türgriff eines alten Autos fest, um nicht hinzufallen. Er musste circa siebzig sein und war schweißnass. Wir holten ein Glas Wasser, das er in einem Zug austrank. Ich stellte mich hinter ihn, damit er sich mit seinem Rücken an meine Beine lehnen konnte. Er sagte, es wäre nicht unangenehm. Kein Wiener würde je sagen, dass etwas angenehm sei. Ich sprach mit ihm. Ich erklärte ihm, dass ich nicht aus Ungarn käme, als er mich ansah und meinen Akzent einzuordnen versuchte, sondern aus Belgien.

Und duzt sich in Belgien jeder? Ich antwortete, dass wir es mit der Höflichkeitsform etwas weniger genau nehmen, weil es uns um die Menschen geht, dass wir den Weg etwas kürzer machen, um einander zu erreichen und zu verstehen. Sicherlich in einer Situation wie dieser.

Er wandte sich ab. Ich sah, wie seine Augen nach oben rollten und sein Körper an meinen Beinen schwach wurde. Ich hockte mich nieder und drückte ihn nach vorne, setzte mich hinter ihm auf den Gehsteig, er saß zwischen meinen Beinen und lag in meinen Armen. Ich sprach mit ihm, ich machte Witze und stellte ihm Fragen. Ob er alleine wohne? Dass es drei Belgier bräuchte, um ihn nach oben zu tragen. Dass kein Flame jemals einen Österreicher drei Stockwerke nach oben tragen würde, auch wenn er darum gebeten würde.

Er war einmal in Brüssel gewesen. Er kam langsam zu Bewusstsein, als er das sagte. Brüssel hatte er teuer gefunden, aber mich fand er nett. Er hatte bereits zwei Herzoperationen hinter sich und litt an Diabetes. Er ergriff meine Hand und drückte sie an seine Wange. Bring mich nach oben, bring mich ins Bett. Er glitt wieder weg. Ich konnte ihn kaum in den Armen halten.

Ich roch keinen Alkohol, ich sah nur einen alten Mann, der alleine war, zusammengesunken auf dem Gehsteig. Er wohnte alleine, seine Frau war vorigen Monat gestorben. Er wohnt neben mir, eine halbe Straße weiter, und ich kenne Harry nicht.

Ob ich bei ihm bleiben wolle und ihn ins Bett bringen könne? Seine Lippen waren grau, seine Haut wurde immer fahler. Ich sprach über unsere Straße, die Menschen, das Leben, ich versuchte, locker zu sein und meine Angst zu verbergen, fünfundzwanzig Minuten sind lange für jemanden, der auf Hilfe wartet. Andere Menschen würden beten, ich summte und hoffte. Dass die Rettung schnell kommen und ihn versorgen würde, so wie es sich gehört. Er küsste meine Hand und fragte noch einmal, ob ich ihn in sein Bett bringen könne. Ich versuchte, ihn hochzuziehen, aber ich wusste, dass ich keine Chance hatte. Ich flüsterte in sein Ohr, dass alles wieder gut werden würde. Er erschlaffte wieder. Ich wünschte mir, dass er sich einfach entspannte, ich konnte sein Gesicht nicht sehen.

Der Arzt kam mit drei Sanitätern, einer Tragbahre und einem Defibrillator. Ich half ihnen, Harry auf die Bahre zu legen, und sagte ihm noch, dass alles in Ordnung sei. Er ließ meine Hand nicht los, und ich werde seinen Blick niemals vergessen. Er spürte die Routine, er wusste, dass er ausgeliefert war und nicht mehr zurück konnte. Der Arzt bedankte sich bei mir, wie man sich bei jemandem bedankt, der den Weg frei macht, um einen vorbeizulassen. Keine Frage, kein Wort, keine Emotion. Mein eigener Vater starb, als ich neunzehn war. Ich war nicht bei ihm, er lang nicht in meinen Armen.

Ich hätte Harry einfach ins Bett tragen und bei ihm bleiben sollen. Ich hätte ihm ersparen müssen, was ihn erwartete, seine Hand nehmen müssen, sprechen, Witze machen, vielleicht sogar singen oder summen, einfach bei ihm sein.

Ich warte auf Nachricht und gehe nicht schlafen. Denn ich kenne Harry jetzt, und er kennt mich.

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Die Gegenfrage

Ich bin auf der Suche nach einer Erklärung für ein Phänomen, das ich hier bei Freunden festgestellt habe. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht typisch österreichisch ist. Sie helfen mir sicher dabei, das herauszufinden.

Angenommen, Sie kochen Spaghetti. Die Sauce dürfen Sie selbst aussuchen, sie ist für diese Geschichte irrelevant. Sie stehen am Herd und sinnieren über dem kochenden Wasser, rühren ab und zu die Nudeln um, als plötzlich Ihre Partnerin oder Ihr Partner hereinkommt. Sie sagen, dass Sie kurz noch etwas anderes tun müssen, und fragen, ob er/sie auf die Spaghetti achtgeben könnte. Kommt die Frage: „Wie lange sind die Nudeln schon im Wasser?“

Hätten Sie nicht – so wie ich – die Frage erwartet: „In wie viel Minuten müssen die Nudeln abgeseiht werden?“ Oder: „Wann sind die Spaghetti fertig?“

Jemand, der erstere Frage stellt, muss noch schnell rechnen. Der zweite Typ von Antwort erfordert nur einen Blick auf die Uhr, und schon ist alles klar.

Dieses Beispiel ist natürlich nur ein Fingerzeig, das werden Sie verstanden haben. Ich gebe noch eines. Die Frau des Arztes ruft ihren Mann an und fragt, wann er zum Essen kommt. Der Arzt antwortet, dass er seinen letzten Patienten um halb sieben hat. Echte Kommunikation kann man dieses kurze Gespräch nicht nennen. Hätte die Frau gefragt, wann er seinen letzten Patienten hat, hätte er sicher geantwortet: „Warum?“ Es gibt Menschen, die ihre Fragen oder auch Antworten so formulieren, dass darauf eindeutig noch eine Frage folgen muss.

„Bist du heute Abend zu Hause?“ Ich antworte dann immer mit einer Gegenfrage: „Warum?“ Welche Relevanz hat es, ob ich heute Abend zu Hause bleibe? Das möchte ich doch gerne wissen? Es geht auch anders: „Solltest du heute Abend zu Hause sein, würde ich mit einer Freundin etwas trinken gehen.“ Bitte schön, klar und deutlich, kein Missverständnis möglich.

„Warst du schon im Supermarkt?“ Da versteckt sich doch noch eine andere Frage dahinter oder spüren Sie das nicht? „Solltest du noch nicht im Supermarkt gewesen sein, kannst du dann Windeln mitbringen?“ Die Frage ist nicht, ob jemand schon im Supermarkt war, sondern Windeln sind das Thema.

Warum interessieren sich manche Menschen – wie in meinem Spaghetti-Beispiel – für die Minuten, die schon vorbei sind, und nicht für die Minuten, die noch kommen werden? Warum nimmt der Arzt an, dass seine Frau selbst ausrechnen wird, wann er zu Hause sein wird, wenn sein letzter Patient um halb sieben kommt?

Ich habe einen kleinen Test gemacht. Ich habe meine ‚Kandidaten‘ mit geschlossenen Augen von 0 bis 60 Sekunden zählen lassen. Jene Personen, die ihre Fragen erfahrungsgemäß so formulierten, dass nur eine einzige Antwort notwendig war, ohne rechnen oder nachdenken zu müssen, zählten immer zu schnell. Die anderen brauchten immer viel länger als eine Minute, bevor sie meinten, fertig zu sein. Irgendwo geht Zeit verloren und werden überflüssige Fragen gestellt.

Ich bin mir sicher, dass Sie inzwischen bereits wissen, zu welcher Kategorie Sie gehören. Sie brauchen nur versuchen, mit geschlossenen Augen 60 Sekunden abzuzählen.

Ich muss das auf jeden Fall nächstes Mal auch in Gent austesten, oder Sie in Athen, Denpasar, Oslo, Paris…

 

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