Maria, Titus und Europa

Das Kaffeehaus am Wiener Naschmarkt ist bis auf ein paar Marktstandler leer. Hermann sitzt in seiner Ecke und liest mit einer Lupe die Zeitung, ein Slowene schreit zu lange und zu laut etwas Unverständliches in sein Telefon und wird vom Ober diskret zurechtgewiesen. Er schreit weiter, hält nun aber seine Hand vor den Mund.

Ich bestelle meinen Cappuccino, eine Buttersemmel und ein weiches Ei im Glas und lese die erste Zeitung des Tages. Der Standard. So rosa wie die Financial Times und De Tijd, aber damit hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Es ist früh und das regnerische Wetter hält die Menschen zu Hause. Das Café wird sich erst später füllen, noch ist es ruhig.

Maria kommt durch die schwere Glastür herein, Spazierstock in der einen, Leine in der anderen Hand. Das macht sie schon seit dreißig Jahren, seit ihr Mann starb, jeden Tag zur selben Zeit. Überleben durch Routine und anonyme, aber lebensnotwendige Gesellschaft. Wer nicht alleine bleibt, lebt länger. Maria und ihr Hund.

Heute läuft ihr Kläffer nicht neben ihr her, sie schleift ihn unachtsam hinter sich ins Café, wie ein kleines Kind, das erst gehen gelernt hat und einen Nachziehhund an einem Band hinter sich her zieht. Wir nennen ihn ‚Kläffer‘, obwohl er Titus heißt. Heute zeigt Titus wenig Regung, die Leichenstarre muss schon länger eingetreten sein. Er fällt mich heute nicht an, er versucht nicht, in meine Stiefeletten zu beißen, bis ich ihm einen kleinen Klaps aufs Maul gebe. Kein Wiener, der Maria darauf aufmerksam machen würde.

Sie schiebt sich mühsam hinter ihren höchstpersönlichen kleinen, runden Marmortisch, zieht den Hund ans gusseiserne Tischbein und bedankt sich beim Ober, der eine Schale Wasser bringt. Er schaut das Tier heute nicht an, kein kurzes Streicheln über die Ohren. „Wie üblich, Maria?“

„Danke, Nico“, antwortet Maria. Er geht an mir vorbei, und ich sehe, dass er es weiß.

So, wie Maria hier sitzt, könnte sie genauso tot sein wie ihr Titus. Zwei Stunden lang. Dann steht sie plötzlich wieder auf, legt drei Euro auf den Tisch, streift sich mühsam ihren Mantel über und schleift Titus aus dem Kaffeehaus. Der Hund braucht Frischluft. Maria auch. Heute wird Maria mehr davon haben als ihr Hund.

Als Nico mich bedient, sage ich beiläufig: „Dieses Tier wird nicht mehr viel trinken.“

„Alles die Schuld von Europa!“ sagt der Ober.

„Europa?“

„Mit allen ihren Richtlinien, sogar über Hundefutter haben sie etwas zu sagen, Sie sehen ja, wohin das führt. Ich sage Ihnen, Europa, diese überbezahlten Leute dort in Brüssel, ich sage Ihnen, Brüssel tötet nicht nur die Hunde.“

Es besteht (noch) keine Richtlinie über Hundefutter in der EU. Das habe ich recherchiert. Aber schon vom Gedanken, dass es so sein könnte, sterben nach Meinung von Nico Hunde in Wien. Ich bin ziemlich sicher, dass er im Juni nicht wählen gehen wird.

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